Raphael Ineichen 08.12.2022
Aus HR Today Nr. 9/2022: Recruiting & Employer Branding
Der Arbeitsmarkt war noch nie so umkämpft wie heute und angesichts der weit verbreiteten Branchenkonvergenz wird der Kampf um Talente nur noch härter werden. Die demografische Entwicklung verstärkt das Problem zusätzlich, sodass der Fachkräftemangel erst der Vorgeschmack einer viel grösseren, strukturellen Herausforderung ist. Der Weg zur Lösung beginnt mit dem Problembewusstsein und endet mit der Umsetzung von Massnahmen, die alle in unserer Hand liegen. Jammern und heulen gehört nicht dazu.
Die Herausforderung in der Gewinnung von Mitarbeitenden fussen zunächst auf externe Ursachen wie dem demografischen Wandel, Zu- und Abwanderung, der Marktentwicklung, Kundenanforderungen, ihrer Konkurrenz und den bildungspolitischen Rahmenbedingungen. Da sie nicht direkt beeinflussbar sind, nehmen wir sie einfach mal zur Kenntnis. Andererseits gibt es interne Ursachen, die wir sehr wohl beeinflussen können. Die Branche, Produkte und Dienstleistungen sowie Standorte anzupassen, dürfte zwar etwas schwieriger sein. Sind diese Faktoren jedoch ursächlich für Rekrutierungsprobleme, sollten auch diese hinterfragt werden. Womit wir bei Themen sind, die Unternehmen für erfolgreiches Recruiting nicht nur beeinflussen können – sondern müssen: Kultur, Mindset und Recruiting Operations.
Jedes Unternehmen hat eine Kultur. Im Gegensatz zu Stil kann man nicht keine Kultur haben, höchstens eine, die für die Gewinnung von Mitarbeitenden nicht förderlich ist. Wenn aber eine «vernünftige» Unternehmenskultur vorhanden ist – also eine, bei der nicht jeder gleich das Weite sucht – muss diese unbedingt nach Aussen kommuniziert werden. Die Unternehmenskultur ist ein enorm wichtiges Entscheidungskriterium, um sich für oder gegen einen Arbeitgeber zu entscheiden.
Mitarbeitende sind das wichtigste Kapital einer Unternehmung – richtig? Gut. Verleihen Sie dieser Aussage Glaubwürdigkeit, indem Sie angemessene Ressourcen dafür bereitstellen. Wenn die Mitarbeitenden nämlich nichts davon merken, ist das Statement höchstens warme Luft. Was ist damit gemeint? Zunächst braucht es jemanden, der sich aktiv um Kultur und Organisation kümmert und auch entsprechende Mittel und Kompetenzen erhält. Und damit ist weit mehr als Personaladministration gemeint. Nicht von ungefähr haben sich Jobtitel im HR von etwas mit «Personal˚ hin zu irgendetwas mit «People & Culture» entwickelt. Richtig bestückt unterstützt diese Funktion das Unternehmen in der Organisations-, Team- und Mitarbeitendenentwicklung. Dazu gehört natürlich auch die Gewinnung von neuen Mitarbeitenden. Was nicht heisst, dass diese Person alles selbst macht oder machen kann.
Über das Thema Mindset habe ich hier bereits im Frühling 2022 geschrieben. Ich möchte deshalb eine andere Facette beleuchten Nämlich den Mindset der Fachvorgesetzten im Kontext des Recruitings. Wir erleben immer wieder mangelndes Problembewusstsein der Situation auf dem Arbeitsmarkt. Klar, jemandem, der nicht regelmässig rekrutiert, muss ein gewisses Verständnis entgegengebracht werden. Ungeachtet der Realitäten werden an neue Mitarbeitende oft Anforderungen formuliert, die teilweise nicht einmal bestehende Teams erfüllen. Weil man keine Zeit hat, «halbfertige» Leute einzuarbeiten, möchte man lieber Menschen einzustellen, die bereits «pfannenfertig» und sofort produktiv einsetzbar sind. Also Menschen, die genau dasselbe schon mal bei einem genau gleichen Unternehmen gemacht haben. Kann man machen, aber wieso sollte der neue Mitarbeitende das tun? Vielleicht für ein höheres Gehalt? Das ist OK, wenn Ihre bestehenden Mitarbeitenden gleich vergütet sind, ansonsten kommen Sie in Teufels Küche.
Wer also ein «fertiges» – tendenziell überqualifiziertes – Talent einstellt, läuft Gefahr, dass diese Personen bald wieder weg ist und eine Stelle annimmt, bei der sie noch nicht alles weiss und sich weiterentwickeln kann. Die Einstellung einer überqualifizierten Person kann zudem bei anderen Mitarbeitenden (oder sogar beim Vorgesetzten des neuen Mitarbeitenden) Ängste auslösen, wenn der Eindruck entsteht, dass die neue Person die vorhandenen Mitarbeitenden ersetzen könnte.
Was führt also zu den idealen, neuen Mitarbeitenden? Es ist eine nachgewiesene Erfolgsbilanz bei früheren Tätigkeiten, allgemeine geistige Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die stärker mit Erfolg korrelieren und nicht Ausbildung, «Sympathie» oder seine Fähigkeiten. Laszlo Bock, der ehemalige SVP of People Ops bei Google, hat es am besten ausgedrückt: «Nach unserer Analyse sind die Schule, die man besucht hat, und die Orte, an denen man gearbeitet hat, schlechte Prädiktoren für gute Leistung.»
Der dritte Bereich, den Unternehmen beeinflussen können, ist die Art und Weise, wie sie ihr Recruiting organisieren. Eines ist klar: Recruiting ist in vielerlei Hinsicht komplex geworden. Wer erfolgreich rekrutieren will, muss die ganze Klaviatur der Mitarbeitergewinnung beherrschen. Sie erfordert Kompetenzen im Employer Branding, Online-Marketing, Recruiting Technologien, Active Sourcing, Beratung der Linie und und und. Menschen, die das alles draufhaben, sind unterdessen schwieriger zu finden als Software-Entwickler. Es drängt sich deshalb rasch die Frage auf, ob all diese Kompetenzen intern aufgebaut werden (können) oder teilweise extern beschafft werden müssen.
Die Fähigkeit, die richtigen Talente für Ihr Unternehmen zu gewinnen, ist eine absolute Schlüsselkompetenz. Aber es ist wie beim Strom: Obwohl es eine überlebenswichtige Ressource ist, produzieren die wenigsten Unternehmen ihren Strom selber, sondern verarbeiten ihn nur. Ähnliches gilt fürs Recruiting: Es ist viel zu wichtig, um alles selbst machen zu wollen.